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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 26. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE FID 2015 I VON DIETER WIECZOREK I 2015

Festival International de Cinema Marseille

 

Der Treffpunkt der fröhlich anarchischen Kreation

 

 

 

VON DIETER WIECZOREK

FID Marseilles

FID Marseilles

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Jedes Jahr aufs Neue gelingt es dem Festival international de Cinema Marseille (FID), die Projektionsräume mit beeindruckend viel Publikum zu füllen, um es mit Filmen im oszillierenden Raum zwischen Realität und Fiktion zu konfrontieren, die angesichts der oft genutzten experimentellen Filmsprachen “schwierig” zu nennen fast ein Euphemismus ist.

"Etrangled", Riccardo Giacconi

"Etrangled", Riccardo Giacconi

 

Am besten lässt sich ein Trend der Filmauswahl anhand eines Theorems beschreiben, der in dem kolumbianisch-italienischen Film “Entrangled” (Entrelazado) von Riccardo Giacconi expliziert wird. Es handelt sich um das in der Quantentheorie genutzte Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox der Quantenphysik. Die benennt das immer noch rätselhafte Phänomen des nachgewiesenen  Informationsaustausches zwischen voneinander getrennten Partikeln. Viele dieser FID-Filme sind in sich segmentiert, formal, stilistisch und kontextuell. Eine übergeordnete Interpretationsebene oder Homogenität schaffende Schlüsselfiguren werden nicht geboten. Aber vielleicht kann sich gerade dadurch eine These Jacques Lacans einlösen, das angesichts insignifikanter Brüche die Chance sieht, das Unbewusste in das Bewusste einbrechen zu lassen.

Beschreiben lassen sich diese Filme selbstredend schwierig. Nur eine Schritt-für-Schritt-Analyse (wenn überhaupt) könnte ihnen gerecht werden, oder eine metaphorische Hybridisierung, die den Zugang jedoch nicht vereinfacht. So darf man vermuten, dass dadaistische, surrealistische und situationistische Gelüste das Publikum nach Marseille dirigieren: “Something happens always” (John Cage).

Doch bietet FID auch andere, eindringliche Filme auf den ersten Blick, die nicht nur nicht wenig bebannte Informationen liefern, sondern auch polemisch und kritisch Stellung beziehen in den sich deteritoralisierenden Machtgefügen unserer untergehenden Gesellschaft.

Einer dieser Filme lässt den als Charlie-Mitarbeiter ermordeten Ökonomist Bernhard Maris, auch Onkel Bernhard genannt, wieder aufleben, um eine an Einfachheit und Brillanz kaum zu übertreffende Lektion zu den Mechanismen der Weltökonomie am Cafeteriatisch zu liefern, aus dem Stand und ohne Manuskript.  Hier wird Aufklärungsarbeit ersten Grades geleistet, die schwammige Theoreme der professionell universitären Ökonomie und der Slang der Spezialisten glatt an die Wand gespielt, um die letztlich gar nicht so komplizieren Manipulations- und Macht-Akkumulationsverfahren verständlich zu machen und beim Namen zu nennen. Dass es mit der Sklaverei keineswegs vorbei, sonders grad in eine neue Phase tritt, ist eine der hier zu gewinnenden Einsichten. Heutige Sklaven allerdings werden nicht mehr ausgehalten, sondern müssen für ihren Körper (und seine Beseitigung) bezahlen.  Bernard Maris hin und wieder von kurzem Lächeln begleitete Diskurse zirkuliert zwischen Zorn und (schwarzem) Humor. Leider beschranken sich die gefilmten Sequenzen auf die Analyse der Manipulationen, ohne auch Ansätze des Widerstandes und der Subversion zu skizzieren. So muss man schon seine Veröffentlichungen konsultieren, wo sich Perspektiven einer alternativen Ökonomie auftun, die in jeden Schulunterricht gehören.

Ebenso beeindruckend und erwähnenswert ist der aus verständlichen Gründen anonyme Beitrag “Télécommande” aus dem Iran, der die dortige Situation im Jahr 2013 veranschaulicht. Auf Teheran konzentriert kommen hier die Enttäuschung und vielleicht immer noch residierenden Hoffnungen der verlorenen Revolte des Jahres 2009 zum Ausdruck. Ein unersetzbarer Insiderbericht zum Stand der Dinge im Iran, vorwiegend in Privaträumen gefilmt, kontrapunktisiert von den Propagandabildern des lokalen TV.

Filmspezialisten zu lauschen ist ein Vergnügen an sich. Zwei dieser unterschiedlicher nicht seien könnender Protagonisten besonderen Spezies kommen bei FID zu Wort. Der 18 Jahre lang wirkende Leiter der portugiesischen Cinemathek João Bénard da Costa (1935-2009), zitiert in Off mit ungebrochener Leidenschaft die Schlüsselfilme seines Lebens und gibt gleichzeitig in Schlüsselsituationen seines Lebens.

Manuel Mozos ist der Autor dieses auch nostalgische Töne anschlagenden portugiesischen Filmes “Others will love the things I have loved” (Outros amarão as coisas que eu amei) , der vor allem eine Qualität feiert: die Leidenschaft für den Film, dieses paradoxe Medium, das den Augenblick fixiert und damit in eine mortale Sterilität verbannt, und auf der anderen Seite verewigt, so dass lang Verschiedene plötzlich so nahe scheinen wie Gesprächs- und Liebespartner. Gleichzeitig eröffnet Mozos den Einblick in die Bildarchive eines der wichtigsten Zentren der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein Porträt De Costas beschränkt sich nicht auf dessen Beziehung zum Film, sondern geht auch seinen Lektüren und Kunstperzeptionen nach. Mozos lädt ein zu einer faszinierenden Reise durch ein homogenes Universum. Sein Film ist ein Moment des Innehaltens in Zeiten der fortschreitenden Dekomposition.

 

Others will love the things I have loved

"Others will love the things I have loved", Manuel Mozos

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6 Desires: DH Laurence and Sardinia

"6 Desires: DH Laurence and Sardinia", Marc Cousins

 

Weitaus jünger ist der andere Filmspezialist, der bereis mit einer überaus stimulierenden Geschichte des Filmes auf sich aufmerksam gemacht hat. Mark Cousins widmet sich in “6 Desires: DH Laurence and Sardinia” überraschend einem Schriftsteller. In der ihm eigenen Technik subversiver Kumpelhaftigkeit, mit dem Schriftsteller auf Du und Du, dechiffriert er dessen Lebensspektrum, huldigt seine Leidenschaften, stellt aber auch Schwächen und Uneingestandenes bloss. Cousins verfolgt auf Engste die Spuren Laurences, von Ort zu Ort, besucht Cafes, marginale Räumen, begibt sich auf Felder und Hügeln, um dessen Eindrücke in Sardinien nachzuvollziehen, bis in alle Details, wie den morgendlichen Frost auf den Blättern. urence wollte 1921 dem industriell verödenden Großbritannien entfliehen, in dem Anonymität, Funktionalität und Utilitarismus immer mehr Raum gewannen.

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Im Wettbewerbsprogramm hervorzuheben ist der rein fiktive Beitrag “To the Center of the Earth” (Al centro de la tierra. Fiktion jedoch mag für selten gesehene Realitäten sensibilisieren, vor allem durch Detailbobachtungen, das Salz einer sublimen Existenz. Daher wohl seine Integration in FIDs Selektion. Ein Mann besten Alters ist überzeugt, in den Weiten der steinigen Wüstenlandschaft nicht nur Ufos, sondern Ausserirdische gesehen zu haben. Mit seinem Sohn macht er sich auf den beschwerlichen Weg zurück zu dem abgeschiedenen Ort, wo der Sichtkontakt statthatte. Er macht seinen Sohn mit den Funktionen der Kamera vertraut, mit der er das Unbekannte aufzeichnen will. Dieser jedoch beginnt dagegen seinen Vater zu filmen, diesen Sucher in einer öden und zugleich überwältigenden Landschaft. Daniel Rosenfeld lässt offen, wohin der Weg führt, wie ebenso die Frage nach der Realität der Ufos ungeklärt bleibt. Er schafft einen Film, der in die Weite führt, und der den suchenden Weg zur eigentlichen Leidenschaft macht und damit die stimulierende Kraft des Filmschaffens selbst in Szene setzt.

Im französischen Wettbewerb beeindruckte Claire Dayons “Les allées  sombres”. Der Film (ver)führt in eine dunkle Höhlenwelt, sowie waldige und steppige undefinierte Zonen. Die Kamerafahrt scheint eine rätselhafte Suche (oder Flucht), dessen Ziel offen bleibt. Eine poetische Schrift an einer Wand öffnet weitere assoziative Räume in dieser nächtlich stürmischen Natur, die ihre Kraft der Banalität der Zivilisation entgegensetzt. Der vereinzelte Körper ist ihr ebenso ausgeliefert wie integriert in diese Realität ohne Ort und Zeit, wo keine Sprache mehr gesprochen wird. Tiere in einer ihnen eigenen unzugänglichen Aura dominieren hier, eine schwer deutbare symbiotisch tiermenschliche Figur scheint eine Schlüsselfigur in dieser tagfernen Welt. Claire Dayons Film ist eine offene Metapher eines Jenseits der Zivilisation.

Psaume Nicolas Boone

"Psaume", Nicolas Boone

 

Eine andere Metapher, die eine sich verselbständigt habenden Exilierung kristallisiert, bietet Nicolas Boone in “Psaume”. Eine Wandergruppe ungleicher Teilnehmer schleppt sich durch eine Wüstenlandschaft, von Wasserloch zu Wasserloch, passiert verfallene und zerstörte Hüttendörfer, bevölkert von verstörten Überlebenden, irgendwo in der Sub-Sahara. Der Film braucht keine genaue Ortsangabe um zu bezeugen, was global geschieht: der allgemeine Exodus oftmals kleiner Gruppen in der wagen Hoffung auf ein mögliches Überleben im Irgendwo. In dieser im Wüstensand verdunstenden postapokalyptischen Welt gibt es weder Fragen noch Antworten, weder Normen noch Dialoge. Auch die Differenz zwischen Soldaten und Zivilisten ist bedeutungslos geworden. Der Wüstendtaub hat alles unter sich begraben. Nicola  Boone kristallisiert pure Ausgesetztheit in einer chaotisch-apathischen Figur.

End- und ziellose Ausgesetztheit ist Thema ebenso in Christophe Bisson poetischem Werk “Lenz élégie”. Auch hier ist es ein vereinsamt Orientierungslosen, der sich durch eine winterlich verschneite, abweisende Landschaften schleppt, Fragmente von Büchners Text “Lenz” (im Off) zitierend. Sein innerer Diskurs nähert sich einem emphatischen Wahnsinn an, der ihn die Kraft zu geben scheint, voranzuschreiten. Auch Bissons bietet ein Szenarium radikaler Vereinsamung und Haltlosigkeit, das doch zugleich angefüllt ist von einer resistenten Vitalität. Die reine Reflexion und Ich-Behauptung stellt sich der letztlich mortalen Energie der Umwelt entgegen. FID platzierte dieses Werk in der “Porträt Stories” Sektion, in der wir auch die bereits erwähnten - in weit engerem Sinne - Porträts Da Costas und D. H. Laurence finden.

 

Lenz elegie Christophe Bisson

"Lenz élégie", Christophe Bisson

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In der Sektion “Futurs” bestach “Algorithm”. Das belgische Film Fanny Zamans scheint einerseits eine zynische Ode an die Hightech-Architektur. Monumentale, pharaonische Formen lassen alles menschliche Ansinnen an sich abprallen. Die Protagonisten dieser hermetischen Welt sprechen eine unzugängliche Sprache, folgen unkommunizierten Strategien und inkarnieren eine marionettenhafte Existenz. Einsichtiges oder nachvollziehbares Lebensglück ist hier undenkbar geworden. Organische Maschinen zelebrieren ihre Funktionalität in Endlosschlaufen der Sinnlosigkeit.  Zamans ästhetisch beeindruckendes Werk zeigt eine Wüstenlandschaft anderen Typs, weniger durch Wassermangel charakterisiert als durch Isolationsperfektionismus. Will man von einem Trend sprechen: FID zeigte in diesem Jahr besonders deutlich: die Wüste wächst.

Last not least bleibt zu erinnern an FIDs beispielhaftes Engagement für junge Filmemacher sowie Filmprojekten in ihrer Entstehungsphase. Auch bereits renommierter Filmemacher, wie dieses Jahr beispielsweise Avi Mograbi, Philipp Warnell und Luis Patiño, nutzen hier ihre Chance. Das FID LAB bietet ihnen durch einen organisierten Wettbewerb die Möglichkeit, ihre Projekte nicht nur vorzustellen, sondern mit Preisen und Fördermitteln versehen in die Realisierungsphase gehen zu können, mit guten Chancen, ihr Werk ein Jahr später hier in Marseille oder andernorts zur Aufführung zu bringen rouge

 

 

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26. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE

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30 / 06 - 06 / 07 / 2015

FID

Others will love the things I have loved

 

 
 

 

FID

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